Französisch Übersetzung: "Sur les traces de la pensée pédagogique de Janusz Korczak"
[PDF 123 Ko, 6 p.]
Prof. Dr. Aleksander Lewin (1915-2002)
Zusammenfassung
I. Das problematische Erbe der Reform-Pädagogen - Il. Janusz Korczak - Ein Fall für sich - III. Das Korczaksche Weltbild - IV. Die Historiosophie von Korczak - V. Die Lösung der Probleme der Kinder ais Voraussetzung für die Lösung der Probleme der Menschheit - VI. Das Wesen der Erziehung - VII. Wie kommen die Kinder zu ihrem Wertsystem? - VIII. Aktive Teilnahme an der Umgestaltung des Lebens - IX. Das Gesetz von den gleichen Rechten - X. Kindergemeinschaft ais Werktätige Gemeinschaft - XI. Die Selbsterziehung der Kinder - XII. Der sich selbst erziehende Erzieher.
I. Das problematische Erbe der Reform-Pädagogen
Die Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk der großen Reform-Pädagogen war immer ein sehr kompliziertes Problem, was man am Beispiel des Schicksals und der Rezeption der padagogischen Ideen von Comenius, Suchomlinski, Freinet, A. Neil — um nur einige zu nennen — beweisen kann. Die Diskussionen und Streitgesprache, die ihre Arbeit zu Lebzeiten begleiteten, setzten sich nach ihrem Tod fort und münden auch heute noch in der Frage: Was ist das Wichtigste in ihrem Lebenswerk und wie haben wir mit ihrem padagogischen Erbe umzugehen?
Il. Janusz Korczak - Ein Fall für sich
lm Fall von Korczak ist dieses Problem noch komplizierter, denn Korczak ist wirklich ein Phanomen, das sich in die üblichen menschlichen Dimensionen eigentlich nur schwer einordnen laßt. Hinzu kommt, daß die Legende — entstanden u. a. im Zusammenhang mit seinem tragischen Tod in den Gaskammern von Treblinka — den Menschen Korczak und sein bis heute noch nicht vollstandig erfaßtes und erforschtes Werk verdeckt. Ich traf Korczak zum ersten Mal 1937 ais ich meine Arbeit aIs Erzieher in seinem Waisenhaus aufnahm. Schon damais war mir bewußt, daß dieser außerordentlich bescheidene Mensch ganz anders war ais die Menschen in seiner Umgebung. Nicht etwa deshalb, weil er überheblich gewesen ware oder schon damais großes Ansehen ais Schriftsteller genoß, sondern vor allem deshalb, weil man fühlte, daß er von einer Lebensmission durchdrungen war. Ich glaube nicht, daß er damais verstanden wurde. Obwohl er mit mir taglichen Kontakt hatte und wir zahlreiche Gesprache führten, hatte ich — damals ein junger Erzieher — aber auch die anderen Mühe, seine Einstellung zum Leben nachzuvollziehen. Erst ungefahr vor zehn Jahren ist es mir bewußt geworden, wie wenig ich damais von Korczak wußte.
Wer war Korczak? Er war Arzt, er war Pädagoge, er war Schriftsteller, er war Jude, er war Pole. Aber eigentlich ist es schwer, ihn in aile diese Begriffe so ohne weiteres einzuordnen. Denn Korczak war ganz einfach ein Mensch. Einmal fand ich einen Text, der von seinem Vater stammte, einem Rechtsanwalt und Autor kleiner Bücher über das Leben namhafter Juden, und Moses Montefiore gewidmet war.[1] Über Montefiore schrieb Korczaks Vater, daß er sowohl Englander ais auch Jude, ein Philanthrop, ein sozialer Vorkampfer, aber vor allem ein Mensch war.
Und für mich ist in diesem Buch die Devise der Familie Korczaks (der in Wirklichkeit Goldszmit hieß) eingeschlossen. Und deshalb ist für mich Korczak nicht so sehr ein Padagoge — er hatte ja bekanntlich keine padagogische Ausbildung — sondern vielmehr ein Mensch, der vom Schicksal der anderen tief beeindruckt war und der dieses Schicksai andern wollte. Er war eigentlich ein Vorkampfer für die soziale Gerechtigkeit.
Es ist deshalb nicht einfach auf die Frage nach dem Wichtigsten in seinem Lebenswerk zu antworten, u. a. auch deshalb. weil die Korczaksche Legende den realen und lebendigen Menschen verdeckt. lm Bewußtsein der Menschen steckt das Bild von Korczak ais Märtyrer. Seine Legende entstand aber schon viel früher, ais er noch Student war und die letzte tragische Etappe seines Lebens ist nur die Bestätigung für die überdurchschnittliche Nachstenliebe und Glaubwürdigkeit dieses Menschen. Es gibt noch etwas anderes, was Korczak und seine pädagogische Arbeit in den Hintergrund stellt — und zwar ist das ein gewisser Hang zum Pankorczakismus, indem man das Gute, das Edle und das Schöne in der Pädagogik mit Korczak verbindet. Dabei verliert man völlig die Tatsache aus den Augen, daß viele wesentliche Denk — und Handlungselemente von Korczak dem „Zeitgeist” entsprangen. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts begann man sich ja mit der psychologischen Besonderheit des Kindes auseinanderzusetzen. Die Ideen von der Kinderselbstverwaltung und dem Erzieher ais einem Beschützer und Betreuer der Kinder — Hauptideen der neuen Erziehung — kreisten förmlich in der Luft, und sie wurden von Korczak aufgenommen und verarbeitet. Deshalb muß Korczak immer in Verbindung mit seiner Epoche betrachtet werden, denn nur dann können wir ihm das „Korczaksche” zurückgeben, also erkennen, was für Korczak typisch und charakteristisch war.
III. Das Korczaksche Weltbild
Der Ausgangspunkt der Korczakschen pädagogischen Konzeption ist nicht das Kind, sondern das Korczaksche Weltbild. Das Kind erscheint immer auf dem Hintergrund seines sehr genau beschriebenen Weltbildes. Dieses Bild ist tragisch und von der Katastrophe gepragt: die Welt ist schlecht regiert und schlecht organisiert, das Böse und das Unrecht breiten sich aus, die Menschen werden damit nicht fertig und sie schreiten, wie im „Senat der Verrückten”, zur Selbstzerstörung. Alle diese Mißstande, wie Kriege, Ausbeutung, Elend, Demoralisierung, rächen sich vor allem an den Kindern, die zu einer solchen Welt verurteilt sind. Es sind wehrlose Kinder, denen seit ihrer Geburt Unrecht getan wird. Die Korczakschen Kinder sind keine isolierten, abstrakten Kinder, sie leben unter genau definierten sozialhistorischen Bedingungen: unter der zaristischen Fremdherrschaft während der Teilungen Polens, dann nach der Wiederlangung der Unabhängigkeit 1918 in den Salons oder den Warschauer Elendsvierteln, sie erscheinen also immer vor dem Hintergrund seiner tragischen Vision des Universums. Aus der Sorge um das Schicksal der Welt entspringt die Sorge um das Schicksal der Kinder und sie widerspiegelt sich in der Korczakschen Pädagogik der Unruhe (und nicht nur des Herzens, wie das von vielen einseitig behauptet wird!)
IV. Die Historiosophie von Korczak
Aus dem tragischen Weltbild resultiert eine eigentümliche Historiosophie des „alten Doktors”: außer der bestehenden Einteilung der Welt in Klassen, Schichten und Interessensgemeinschaften gibt es — und kaum jemand hat dieses Phänomen so eingehend wie Korczak beobachtet — eine Einteilung in Erwachsene und Kinder. Das Verhältnis Erwachsene-Kinder ist nicht gleichberechtigt, es ist ungerecht, denn die Erwachsenen sind die Herrscher der Welt und der Geschichte, sie zwingen den Kindern, die von ihren Launen abhängig sind, alles auf, unterdrücken sie und nutzen sie aus. Die Kinder sind eine Klasse von Leibeigenen, vollkommen abhangig von dem Willen der Erwachsenen. Der junge Korczak schrieb bereits im Jahre 1906 einen Artikel: „Die glückliche Kindheit”, in dem er den Mythos von der glücklichen Kindheit ais eine Lüge der Erwachsenen entlarvte, die sie sich ausgedacht haben, um bequem zu leben und weiterhin den Kindern ihr Unrecht anzutun.
Die Diskriminierung des Kindes erfolgt nicht nur in der Familie, sondern auch in den Bildungs — und Erziehungsinstitutionen, die für die wesentlichen Probleme der Kinder kein Interesse haben, sondern sie durch Verbote und Züchtigung zu „erziehen” versuchen. An dies alles dachte Korczak, ais er 1933 auf der Versammlung der Gesellschaft tür Waisenhilfe sagte: „ … welch eine Tragödie ist das gegenwartige Leben und welch eine Schmach tür diese Generation, die den Kindern eine ungeordnete Welt hinterläßt”.[2]
V. Die Lösung der Probleme der Kinder ais Voraussetzung für die Lösung der Probleme der Menschheit
„Kinder werden nicht erst, sondern sind bereits Menschen”, schrieb Korczak schon 1899, also lange bevor die Genfer „Deklaration der Rechte der Kinder” verabschiedet worden war[3]. ln der „Entwicklung der Idee der Nächstenliebe” wies er darauf hin, daß diese ihren Ausdruck zuerst im Kampf um die Rechte der Armen, dann der Emanzipation der Frauen und zuallerletzt in dem Eintreten tür die Veranderung der rechtlosen Lage der Kinder und ihre Gleichberechtigung gefunden hat. Doch die Lösung der Probleme der Welt muß mit der Lösung der Probleme der Kinder beginnen. Diesen auf den ersten Blick vielleicht etwas utopischen Gedanken verstand Korczak aber ganz konkret. Die Kinder werden nicht gleichberechtigt dadurch, da6 man ihnen — wie in der Genter Deklaration von 1924 — ein Recht auf Fürsorge, Gesundheitsschutz und Bedingungen zur Bildung und Entwicklung sichert. Der Irrtum der Genfer Juristen bestand darin, daß sie Rechte und Pflichten vermischten, denn die Fürsorge und der Kinderschutz sind laut Korczak elementare Pflichten der Erwachsenen gegenüber den Kindern. Solange man den gesellschaftlichen und staatlichen Protektionismus, der die Kinder von den Erwachsenen abhängig — und dadurch zu einem „Betreuungsobjekt” — macht, nicht überbrücken wird, solange wird das Leben eines Kindes keinen selbständigen Wert haben. Die faktische Gleichberechtigung der Kinder liegt also in der Anerkennung der Tatsache, daß die Kinder Menschen sind und daß sie zu Menschen nicht erst ais Erwachsene werden.
VI. Das Wesen der Erziehung
Korczak war deshalb der festen Überzeugung, daß die Hauptaufgabe der Erwachsenen darin besteht, den Kindern zu helfen, sie selbst zu werden, die tagliche Mühe des Heranwachsens, des Heranreifens, den Kennenlernens von sich selbst und der umgebenden Welt zu verstehen und zu unterstützen. Die Kinder haben ja eigene Vorstellungen von der Welt, von der Gerechtigkeit, sie haben ein eigenes Verhaltnis zum Leben der Erwachsenen, auf manchen Gebieten (Emotion, Sensibilität, Spontaneität, Authentizität) sind sie ihnen sogar überlegen. Deshalb ist es unzuverlassig, den Kindern die Meinungen der Erwachsenen aufzuzwingen, denn die Kinder haben das Recht auf ihr eigenes Weltbild und eigene Entschlüsse. Sie haben ferner das Recht, ihre Würde, Unwiederholbarkeit und Identität zu achten und zu wahren. Es müssen also Bedingungen geschaffen werden, die es den Kindern ermöglichen, ihr eigenes System der ethischen und gesellschaftlichen Werte zu erarbeiten.
VII. Wie kommen die Kinder zu ihrem Wertsystem?
Es ist eine verbreitete Meinung, da6 die Erwachsenen dem Kind ein bestimmtes Wertsystem — ein fertiges, obligatorisches und durch verschiedene Autoritäten bestatigtes Muster — übermitteln können und sollen. Doch die Korczaksche Auffassung dieser fundamentalen Frage ist völlig anders. Sein padagogisches Credo kam wohl am deutlichsten zur Sprache in dem Text „Der Abschied”, der an die ersten Zöglinge, die sein Waisenhaus verließen, gerichtet war:
„Nichts geben wie Euch.
Wir geben Euch keinen Gott, denn ihr müßt ihn selbst in Eurer eigenen Seele, in eigenen Anstrengungen suchen.
Wir geben Euch kein Vaterland, denn Ihr müßt es in Eurer eigenen Arbeit, in Euren Herzen und Gedanken finden.
Wir geben Euch keine Menschenliebe, denn es gibt keine Liebe ohne Vergebung, und Vergebung - das ist die Mühseligkeit, Schwierigkeit, die jeder selbst überstehen muß.
Wir geben Euch jedoch eines: Sehnsucht nach einem besseren Leben, das es noch nicht gibt, aber geben wird; nach einem Leben voll Recht und Gerechtigkeit. Vielleicht tührt Euch diese Sehnsucht zu Gott, Vaterland und Liebe.”[4]
ln diesem kurzen Abschnitt ist fast die gesamte pädagogische Idee, sein Erziehungsprogramm enthalten. Ein Wertsystem kann den Kindern nicht von außen übermittelt und aufgezwungen werden. Ein Wert wird erst dann bedeutend und gestaltet das Leben des Menschen, wenn er in ihm schrittweise heranreift und sich standig in ihm entwickelt. Zu jedem Wert muß ein jeder selbst gelangen, unter Schmerz, Mühsal und Anstrengung, indem er seine Denk- und Handlungsweise standig korrigiert. Nur wenn ein Mensch diese Anstrengungen, Hindernisse, sogar Leiden sich zueigen macht, wird er zu einer Persönlichkeit. Andernfalls wird er zu einem manipulierten Wesen, zu einer Marionette, die gedankenlos den Stereotypen und Klischees unterliegt!
VIII. Aktive Teilnahme an der Umgestaltung des Lebens
Den entscheidenden Einfluß auf die Herausbildung des Wertsystems hat die aktive Teilnahme an der Umgestaltung des Lebens und nicht nur die Kontemplation. Zwar ist die kritische Reflexion und die Auseinandersetzung mit den Grundlegungen, die für den einen oder anderen Wert von Bedeutung sind, unerläßlich, entscheidend istjedoch das Streben nach einem besseren, der menschlichen Vorstellung von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit genauer entsprechenden Leben. Die Schaffung und die mit den Kindern gemeinsame Gestaltung eines solchen Modells des Lebens und des Zusammenlebens, das es noch nie gegeben hat, gehört zu den wesentlichsten und originellsten Eigenschaften der pädagogischen Arbeit von Korczak. Das, was er im Waisenhaus und in „Unser Haus” vollbracht hat, beweist, daß dieses nahezu utopische Modell bestehen und sich sogar unter den ungünstigsten Bedingungen entwickeln kann. In diesen beiden Erziehungsstätten schuf Korczak den Prototyp eines neuen Modells des Zusammenlebens von Menschen: Kindern und Erwachsene.
IX. Das Gesetz von den gleichen Rechten
ln dem von ihm geschaffenen Lebensmodell ging Korczak davon aus, daß Kinder und Erwachsene gleichberechtigt sind und sie einen gesellschaftlichen Vertrag - nach dem Muster Jean-Jaques Rousseaus — schließen müssen. Diese neuen Formen des Lebens und Zusammenlebens von Erwachsenen und Kindern müssen sich also auf eindeutig festgelegte Gesetze und Rechte stützen, die — gemeinsam von ihnen ausgearbeitet — für die einen wie die anderen im gleichen Maß verpflichtend sind. Ferner regeln sie aile Bereiche des Gemeinschaftslebens. Die Rechte werden von besonderen Institutionen der Kindergemeinschaft überwacht: vom Parlament, dem Gerichtstribunal und dem Kollegialgericht.
Dieses eigentümliche Gerichtswesen, in dem es keinen Platz mehr für eine doppelte Moral gab, tür die das eine den Erwachsenen, das andere den Kindern erlaubt ist, war dazu berufen, die Einhaltung der Grundgesetze der Korczakschen Ethik: die Toleranz, den Willen zum Verstehen und zur Verständigung, das Verzeihen zu überwachen. Der generelle, fast heilige Grundsatz des Korczakschen Lebensmodells war: der Mensch schuldet nicht dem Menschen, sondern den in der gegebenen Institution geltenden Gesetzen Gehorsam.
X. Kindergemeinschaft ais Werktätige Gemeinschaft
Korczak war darüberhinaus der festen Überzeugung, daß die Arbeit — als grundlegender Faktor der Vorbereitung zum Gesellschaftsleben — die Persönlichkeit des Individuums herausbildet. Das war eine tür den „Zeitgeist” charakteristische Idee, vertreten auch von anderen Pädagogen, u. a. von Dewey, Kerschensteiner, Krupskaja, Makarenko, Blonski, Szacki. Doch Korczak, der unter dem Einfluß des polnischen Sozialisten Stanislaw Brzozowski stand, sah in der Arbeit eine Art von Mysterium. das in einem Kultus der Arbeit, des Arbeiters und der Arbeitsgerate mündete[5].
Diese Einstellung zur Arbeit spiegelte si ch natürlich au ch in seinem Erziehungssystem wider. Wenn man z. 8. das Korczaksche Waisenhaus oder „Unser Haus” betrat, standen dort direkt am Eingang, sozusagen auf den Ehrenplätzen — verschiedene Besen, Eimer, Bürsten und andere Gegenstände, die woanders in den tiefsten Ecken vor dem Blick verborgen waren! Viel Zeit widmete Korczak der prazisen Organisation der Arbeit, vor der Einführung neuer Arbeiten prüfte er sie persönlich und erklärte den Kindern jedes Mal, warum er das tat. Er erarbeitete einen Aigorithmus der Durchführung der jeweiligen Arbeiten und tührte ais einer der ersten die Arbeitsmessung — die sog. Arbeitseinheit ein. Die Ansammlung einer bestimmten Anzahl von Arbeitseinheiten berechtigte zu dem Titel „Verdienter Arbeiter”.
Es ist kein Zufall, daß sein letzter Text, den er im Ghetto unmittelbar vor seinem Tod schrieb, den Titel „Warum sammie ich das Küchengeschirr ein” trug[6]. Nach den Mahlzeiten ging Korczak zwischen den Tischen herum, sammelte das Küchengeschirr ein und untersuchte, wie man es am besten und rationellsten abraumen und saubermachen sollte, bevor er dies von den Kindern forderte. Für Korczak gab es hait keine besseren und schlechteren Arbeiten — auch bei der dreckigsten, schwarzesten Arbeit sollte man weiße Hände bewahren. Diesem Grundsatz blieb Janusz Korczak bis ans Lebensende treu.
XI. Die Selbsterziehung der Kinder
Ein anderes originelles Element seines padagogischen Systems. seiner padagogischen Praxis im Waisenhaus und in „Unser Haus” war, daß dort alles der Selbsterziehung der Kinder diente. Indem seine Zöglinge aktiv an und mit den anderen arbeiteten, mußten sie standig an sich selbst arbeiten, also sich selbst erziehen. Ihr Verhalten und ihre Handlungen sollten nicht aus Furcht vor der Strafe oder dem Erzieher, sondern aus den geltenden Gesetzen und dem Respektieren der Meinung der Gleichaltrigen entspringen. Das war keine leichte Aufgabe. und nicht immer war sie vom Erfolg gekrönt. Erst durch große Mühe. mit der man seine eigenen Schwächen, seine Aggressionen, Habsucht und Unehrlichkeit überwinden konnte, war man imstande, sich neue Fahigkeiten im Bereich der Ordnung und Organisation anzueignen. Dafür erarbeitete Korczak ein ganzes System von Maßnahmen und Erziehungsregeln, die auf diese Anstrengungen stimulierend wirken sollten, wie z. B. die Liste des Morgenaufstehens, die Kategorie der Sauberkeit und Wettbewerbe.
Die Selbsterziehung sollte man nicht nur zur Umgestaltung des Modells des menschlichen Zusammenlebens führen, ihr Ziel war es, den Menschen und seine Natur zu verandern und dadurch die menschliche Gattung zu vervollkommnen. Der Mensch sollte durch die Selbsterziehung besser werden ais die ihn umgebende Wirklichkeit.
XII. Der sich selbst erziehende Erzieher
Korczak stimmte der traditionellen Überzeugung nicht zu, nach der die Kinder nur von den Erwachsenen, also von Erziehern erzogen werden. Er vertrat immer die Meinung, daß die Erziehung aus der gegenseitigen Wechselwirkung von gleichberechtigten Menschen, der Beeinflussung eines Menschen durch den andern Menschen, des Kindes durch den Erwachsenen, aber auch des Erwachsenen durch das Kind besteht. Man kann andere Menschen (Kinder) nicht verstehen und nicht ändern, wenn man sich selbst nicht ändert, wenn man nicht an sich selbst arbeitet und seine Haltung, sein Verhalten nicht korrigiert. Wenn ein Mensch dies nicht kann, kann er kein Erzieher werden. Um andere zu erziehen, muß man sich selbst „umbauen”, auf Vorurteile, pädagogische Possen und die Dienstautorität verzichten. Denn nur dann werden sich die Kinder im Kontakt mit uns entwickeln, wenn sie aus unserer Erfahrung und Lebensweisheit unbegrenzt schöpfen können. Wir dagegen werden das Gefühl haben, daß wir gemeinsam mit den Kindern ein neues Lebens — und Erziehungmodell aufbauen, daß wir die Möglichkeit haben, unsere Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen auf ein höheres Niveau zu stellen.
Wenn dies zu Lebzeiten Korczaks keine Utopie war, warum soli sie heute ais solche betrachtet werden?
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Anmerkungen
[1] MONTEFIORE, M. (1784-1885): Philanthrop, Sheriff der Londoner City und Präsident des englischen Board of Deputies, war an zahlreichen Hilfsaktionen für unterdrückte Juden u.a. in Darnaskus, Marokko und Rurnänien beteiligt und unterstützle die jüdische Kolonisation in Palästina
[2] KORCZAKA, J., Mysl Pedagogiczna: Nowe zrodla. (Der pädagogische Gedanke Janusz Korezaks Neue Quellen). Warszawa, Nasza Ksiegarnia 1983, S. 242
[3] Rozwoj idei rnilosci blizniego w 19 wieku. (Entwicklung der Idee der Nächstenliebe irn 19. Jahrhundert), Op. cit. S. 31
[4] KORCZAK, J.: Pozegnanie. In: Pisma Wybrane. T.2. (Der Abschied. In: Ausgewählte Werke. B.2.,) Warszawa, Nasza Ksiegarnia 1978, S. 68
[5] BRZOZOWSKI, S. (1878-1911): polniseher Sozialist, Vertreter der „Philosophie der Arbeit”
[6] KORCZAK, J.: Parnietnik. In: Pisrna Eybrane. T.4. (Tagebuch. In: Ausgewählte Werke. B.4.), Warszawa, Nasza Ksiegarnia, 1978